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Jessica Lynch
Wir lassen keinen unserer Kameraden zurück


Offizielles Armee-Foto
 
23. März 2003. Es war der 4. Kriegstag, an dem Truppen der USA und Groß-Britanniens in den Irak zum Sturz des Regimes von Saddam Hussein eindrangen. Jessica Lynch, eine 19-jährige Obergefreite aus dem kleinen Ort Palestine im US-Bundesstaat West Virginia gehörte der 507. Versorgungskompanie an. Sie verschwand an diesem Tag im südlichen Irak nahe der Stadt Nasirija, als ihr Nachschubkonvoi vom Weg ab kam und in einen irakischen Hinterhalt geriet.

Danach registrierte die US-Armee zwei Soldaten als tot, fünf als Kriegsgefangene, und acht, darunter Lynch, als im Kampf vermisst. Die fünf Gefangenen wurden im irakischen Fernsehen neben blutverschmierten Leichen von mindestens vier US-Soldaten gezeigt.


Der Beweggrund zur Army zu gehen

Nach ihrem Schulabschluss 2001 verpflichtete sich Jessica Lynch bei der Armee, um Geld für das College zu verdienen. Sie will später Grundschullehrerin werden. Ihr Vater, ein Fernfahrer, sagte, das Geld sei knapp. "Wir hätten für das College bezahlen können, aber das wäre sehr hart geworden. Die Army bot ihr das, was sie wollte." Nach dem Wehrdienst wird ein Studium finanziell unterstützt. Kurz bevor ihre Einheit zum Golf aufbrach, verpflichtete sie sich sogar für weitere vier Jahre.

"Jessica wusste, dass es gefährlich werden wird", meinte Don Nelson, ein Freund der Familie. Sie wollte nicht kämpfen, aber sie sagte immer: "Ich bin bereit, ich bin vorbereitet und gut trainiert." Und sie hätte hinzugefügt: "Ich bin ja nur ein Mitglied einer Versorgungseinheit."


Der irakische Informant

Etwa eine Woche nach ihrem Verschwinden bekamen die US-Streitkräfte die Information, dass eine Amerikanerin in einem Krankenhaus in Nasirija festgehalten wird. Tatsächlich handelte es sich um Jessica Lynch. Der Informant war ein 32-jähriger irakischer Rechtsanwalt, der aus Sicherheitsgründen "Mohammed" genannt wird. Er hatte Englisch an der Universität von Basra gelernt, und erzählte in gebrochenen, aber ausdrucksstarken Worten, wie er den Amerikanern half.

Mohammed sagte, er sei stutzig geworden, als er seine Frau, eine Krankenschwester, besuchte und eine Vielzahl von Sicherheitskräften im Notfall-Bereich der Klinik sah. Es hieß, dass eine US-Soldatin hier sei. Ein befreundeter Arzt zeigte ihm den Raum, wo die stark bandagierte Lynch festgehalten wurde.

Als er durch ein Fenster in den Raum blickte, wurde er Zeuge, wie ein irakischer Oberst der Verwundeten ins Gesicht schlug - zuerst mit der Handfläche, dann mit dem Handrücken. "Ein, zweimal - aber sie war sehr tapfer", meinte Mohammed. "Von da an wusste ich, dass ich ihr helfen musste. Ich entschloss, zu den Amerikanern zu gehen und ihnen davon zu erzählen."

Zur Sicherheit brachte er seine Frau und die 6-jährige Tochter ins Haus seines Vaters, dann machte er sich zu Fuß auf den Weg, um die alliierten Truppen zu finden. Zehn Kilometer lief er durch die Wüste zu einem Kontrollpunkt von US-Marineinfanteristen. Er befürchtete, man würde ihn für einen Angreifer in Zivil halten, daher näherte er sich mit erhobenen Händen.


Mohammeds Mission

Der Iraker informierte US-Offiziere über die Kriegsgefangene. Diese baten ihn, ins Krankenhaus zurückzukehren, um weitere Informationen zu bekommen. Zwei Tage lang pendelte Mohammed zwischen Krankenhaus und dem amerikanischen Stützpunkt und durchquerte dabei umkämpftes Gebiet. Sein hauptsächlicher Auftrag war es, die Wachen zu zählen und die Räumlichkeiten des Gebäudes zu erspähen. Zudem sollte er die blonde Gefangene jeden Morgen mit einem "Good morning" bei Laune halten.

Mohammed begleitete den befreundeten Arzt in Lynchs streng bewachte Station. "Ich sagte 'Good morning', und sie dachte wohl ich sei ein Arzt." Dann beugte er sich zu ihrem Ohr und flüsterte: "Don't worry." Jessica reagierte mit einem Lächeln. Sie war bis zum Kinn mit einem weißen Betttuch bedeckt. Ihr Kopf war bandagiert, ihr rechter Arm befand sich in einer Schlinge über der Decke. Eine Wunde am rechten Bein war in einem schlechten Zustand. Daher diskutierten die Ärzte eine Amputation ihres Beines. "Mein Freund und ich versuchten das zu verhindern." Durch verschiedene Vorwände konnten sie die Operation lange genug hinauszögern. "Sie wäre gestorben, wenn sie es versucht hätten."

Als Mohammed am 30. März den US-Militärs Bericht erstattete, hatte er fünf verschiedene Lageskizzen dabei, die er zusammen mit seiner Frau gezeichnet hatte. Er konnte genau den Raum aufzeigen, wo die Soldatin festgehalten wurde. Zudem übergab er einen Rettungs- und Notfallplan, sowie die Zeiten des Schichtwechsels. Er zählte 41 Sicherungsleute, darunter vier, die Lynchs Raum in Zivilkleidung bewachten. Diese waren mit Kalaschnikow Sturmgewehren und Funkgeräten ausgerüstet. Ferner fand er heraus, dass ein Hubschrauber auf dem Dach des Krankenhauses landen kann. Genau das waren die Informationen, die die Marines gebraucht hatten. Daraufhin starteten die Planungen im US-Hauptquartier.

Während er Saddams Handlanger observierte, stattete ein Trupp des Regimes seinem Haus einen unliebsamen Besuch ab. Viele seiner persönlichen Dinge und auch sein Auto wurden beschlagnahmt. "Ich fürchte nicht um mein Leben, aber der Geheimdienst steht noch immer loyal zu Saddam. Sie werden meine Frau und mein Kind töten." Dienstagnacht, Stunden bevor das US-Einsatzkommando Lynch befreite, brachte er seine Familie aus Nasirija heraus. Sie bekamen Flüchtlingsstatus und wurden von den Amerikanern an einen sicheren Ort gebracht.


Die Befreiungsaktion

Am 1.April 2003, kurz vor Mitternacht verursachten US-Streitkräfte einen Stromausfall in Nasirija, als die Kampfhubschrauber mit den Spezialeinheiten an Bord sich auf dem Weg zum Krankenhaus befanden. Unbemannte Aufklärungsflugzeuge kreisten über dem Gebiet und sendeten Bilder zur Einsatzleitung. Marine-Einheiten, Pioniere und Luftwaffen-Piloten waren beteiligt, um die seit mehr als einer Woche vermisste Obergefreite zurück zu holen. Als Ablenkungsmanöver startete ein kleiner Verband eine Attacke auf die Zentrale von Saddams Baath-Partei sowie auf eine strategisch wichtige Brücke in einem anderen Teil der Stadt. Unterdessen landeten die Spezialeinheiten beim Krankenhaus und begannen Lynch zu suchen.

Auf einer Trage nach der Rettung.
 
Nach einem kurzen Feuergefecht mit Irakern vor dem sechs Stockwerke hohen Gebäude gelang dem US-Kommandotrupp kurz nach Mitternacht der Zutritt. Im Innern des Krankenhauses gab es keinen Widerstand. Sie warfen Blendgranaten und suchten nach Lynchs Zimmer. Jessica hatte die Decke über den Kopf gezogen, als man sie in einem Raum des ersten Stocks fand. Einer aus dem Trupp rief ihren Namen. Ohne zu antworten schaute sie unter der Decke hervor. "Jessica Lynch", rief er, "wir sind Soldaten der USA. Wir sind hier, um dich zu beschützen und nach Hause zu bringen." Der Mann kam zu ihrem Bett und zog seinen Helm ab. Sie schaute ihn an und erwiderte: "Ich bin auch ein amerikanischer Soldat."

Die Retter beurteilten rasch ihren gesundheitlichen Zustand. "Sie schien ziemliche Schmerzen zu haben", sagten Offizielle später. Dann wurde sie auf einer Trage festgeschnallt und wenige Stufen hinab zum wartenden Hubschrauber getragen. Als sie abhoben, fasste sie die Hand eines Militärarztes und flehte: "Bitte verlasst mich nicht."

Die Einsatzleitung verfolgte den schnellen Zugriff. Die Operation, für die 45 Minuten angesetzt waren, war in 25 vorüber. Sobald Lynch sich in der Luft befand, informierte man das US-Zentralkommando: "Sie ist sicher und in unseren Händen." US-Brigadegeneral Vincent Brooks erklärte später vor der Presse: "Einige tapfere Männer haben alles riskiert. Wir lassen keinen unserer Kameraden zurück".


Jessicas Kameraden

Während der Aktion kam von einem irakischen Arzt der Hinweis, dass sich Leichen von US-Soldaten im Krankenhaus und auf dem nahe gelegenen Friedhof befinden. Da sie keine Schaufeln dabei hatten, so Luftwaffengeneral Gene Renuart, hätten Mitglieder der Spezialeinheit die Überreste mit bloßen Händen ausgegraben. "Sie mussten das sehr schnell erledigen, da sie noch vor Sonnenaufgang den Ort verlassen wollten", sagte er. "Es ist das Vermächtnis der Koalitionstruppen, ihre eigenen Leute nach Hause zu bringen."

Insgesamt wurden 11 Tote gefunden, davon zwei im Leichenschauhaus des Hospitals und neun unter der Erde. Die meisten sind Amerikaner, die in den ersten Kriegstagen bei Nasirija verschwanden. Acht von ihnen wurden als Mitglieder von Lynchs Einheit identifiziert, einer ist ein Angehöriger der 3. Infanterie Division. Alle wurden in die USA zurück gebracht.

Unter ihnen war auch Lynchs frühere Zimmergenossin Lori Ann Piestewa. Sie ist die erste Amerikanerin die im Kampfeinsatz gefallen ist. Die 23-jährige allein erziehende Mutter zweier Kinder im Alter von drei und vier Jahren gehörte dem Stamm der Hopi-Indianer an. Jessica Lynch verlor einen ihrer besten Freunde. "Man hat sie immer zusammen gesehen," erinnerte sich ein Hauptgefreiter, der die Soldatinnen bei der Ausbildung auf einem Militärstützpunkt in Texas kennen gelernt hatte. "Es waren so umgängliche und nette Mädchen."


Vom Irak nach Deutschland

Noch am gleichen Tag verließ die Schwerverletzte in einem Militärflugzeug den Irak. Mitglieder des medizinischen Teams, das Jessica Lynch auf dem 8-Stunden-Flug von Kuwait nach Deutschland begleitete, sagten, sie sei bei Bewusstsein, wach und gut gelaunt gewesen, aber über ihre Lage hätte sie nicht geredet. Sie traf am späten Abend des 2. April auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Rheinland-Pfalz ein und wurde mit einem Rettungswagen ins wenige Kilometer entfernte Militärhospital nach Landstuhl gebracht. Es ist die größte Klinik, die die US-Army außerhalb der Vereinigten Staaten unterhält. Die Bettenzahl wurde vor dem Krieg auf 322 mehr als verdoppelt. Alle verletzten Soldaten aus der Golf-Region wurden zur Erstversorgung hierher gebracht.

Die 19-Jährige war in einem stabilen Zustand, als sie in die Intensivstation kam. Hier behandelte man sie wegen einer Wunde am Kopf, einer Verletzung der Wirbelsäule und wegen einem gebrochenen rechten Oberarm, drei Frakturen des linken Beins sowie multiplen Frakturen des rechten Fußes. Es hieß, die Patientin müsse mehrfach in Deutschland operiert werden.


Rätsel um die Ursache ihrer Verletzungen

Ein ärztliches Bulletin stellte zunächst fest: "Nach der eingehenden Untersuchung ist es denkbar, dass die Frakturen am rechten Oberarm und am linken Unterschenkel von einer Waffe kleinen Kalibers stammen". Intensive Foltereinwirkungen könnten die gleichen Folgen gehabt haben, auch im Hinblick auf die große Zahl an Knochenbrüchen. David Rubenstein, der Kommandeur des Hospitals in Landstuhl, hatte gegenüber der Presse erklärt, man habe keine Ein- und Austrittswunden von Schüssen gefunden. Dies würde zur Vermutung passen, dass ihr die Verletzungen nicht im Kampf zugefügt worden sind.

Ein Foto aus besseren Zeiten.
 
Die Geschichte wurde noch mysteriöser, als der Fernsehsender CNN berichtete, dass Marineinfanteristen bei der Hausdurchsuchung eines Offiziellen der Baath-Partei in Nasirija ihre Erkennungsmarke entdeckt hätten. Vertrauliche Hinweise kursierten später, Jessica sei von Parteimitgliedern stundenlang mit dem Kopf nach unten aufgehängt und mit Stockschlägen misshandelt worden. Doch von offizieller amerikanischer Seite wurden die Informationen nie bestätigt.

Ihre Eltern, zwei Geschwister und ein Cousin trafen am folgenden Wochenende in Deutschland ein, um Jessica wieder zu sehen. "Sie war mehr besorgt um uns, wollte wissen wie es den Freunden geht, und was los sei", sagte ihre Mutter. "Sie will nur schnell nach Hause. Ich denke nicht, dass sie schon wieder in der Realität angekommen ist." Von ihrer Gefangenschaft hätte sie nicht viel erzählt. Ihr Vater fügte hinzu: "Wenn sie dazu bereit ist, wird sie es uns erzählen." Aber was Jessica erzählte war, dass sie im irakischen Krankenhaus nur mit Orangensaft und Keksen überlebte.


Operationen und Lieblingsspeisen

"Sie hat eine Operation erfolgreich hinter sich", sagte ihr Vater und lächelte, als er über pinkfarbene Gipsverbände für ihre gebrochenen Gliedmaßen scherzte. "Sie wird noch weitere Operationen haben. Das braucht alles Zeit und Geduld. Aber sie ist in einer guten Verfassung." Ihre Rückenoperation diente dazu einen Wirbel zu korrigieren, der einen Druck auf den Nervenkanal des Rückgrats ausübte. Dies war vermutlich der Grund dafür, dass sie anfangs kein Gefühl in den Beinen hatte. Nächste Operationen sollten die Arm- und Beinfrakturen stabilisieren. Die behandelnden Ärzte betonten, die Prognose für eine vollständige Genesung sei sehr gut.

Obwohl sie in den ersten Tagen intravenös ernährt worden ist, hatte sie für das Krankenhaus eine Liste ihrer Lieblingsspeisen zusammengestellt: Pute, gekochte Karotten und Apfelmus. Eine Pressesprecherin meinte einige Tage später: "Neben Apfelmus essen trinkt sie sehr viel Fruchtsaft. Aber es scheint, die Pute und die Karotten müssen noch etwas warten." Jessica blieb zehn Tage im Militärhospital in Deutschland und wurde dann zurück in die Vereinigten Staaten geflogen.


Rehabilitation in Washington

Die junge Soldatin kam ins Walter Reed Armee Hospital nach Washington, wo sie eine Vielzahl weiterer Operationen wegen ihrer Frakturen über sich ergehen lassen musste. Die Knochen wurden nun mit einem sensiblen und umfassenden Netzwerk aus Stiften und Schrauben zusammengehalten.

Jessica Lynch talks to reporters as she returns home
 
"Sie hat noch immer starke Schmerzen, und ihre Genesung wird sich länger hinziehen", sagte ein Sprecher der Familie, während sie im Hospital lag. In der ersten Zeit brauchte sie fast eine Stunde, um vom Bett in den Rollstuhl zu kommen. Leute, die sie gesehen hatten, sagten, sie sei psychisch traumatisiert und wirke irgendwie benommen. Dennoch sei ihr Zustand schon viel besser, als in den ersten Wochen.

Jessicas Eltern verbrachten die meiste Zeit bei ihrer Tochter im Washingtoner Krankenhaus. Unterdessen wurde das Haus der Familie in West Virginia behindertengerecht umgebaut. Die Arbeiten erledigten Verwandte und Freiwillige, finanziert wurde dies mit Spenden aus dem ganzen Land.


Die Geschichte im neuen Licht

Direkt nach der spektakulären Rettung wurde Jessica Lynch zum Nationalhelden. Medienberichte bauschten die Geschichte auf. Darin wurde behauptet, sie hätte trotz eigener Schuss- und Stichverletzungen auf irakische Streitkräfte bis zum letzten Schuss gefeuert.

Aber weit entfernt von Schlachtfeld-Verklärungen brachten Journalisten und eine militärische Untersuchung, die Anfang Juli 2003 im US-Verteidigungsministerium veröffentlicht worden ist, Licht in das Geschehen. Man recherchierte besonders was passierte, nachdem der Konvoi vom Weg abkam, und wie es der Soldatin in den Händen der Iraker erging.


Der Weg ins Verderben

Tatsache ist, dass die 507. Versorgungskompanie das Ende der 3. Infanteriedivision war, die mit insgesamt 8000 Fahrzeugen von Kuwait nach Bagdad vordrang. Innerhalb der Division sollte die Versorgungseinheit eine Patiot Raketenabwehrbatterie unterstützen.

Am Morgen des 23. März begann der Weg ins Verderben, als Lynchs Kompanie bestehend aus Lastwagen, Sattelschleppern, Bergungsfahrzeugen und Humvee Jeeps die Route, die Nasirija umgeht, verpasste. Stattdessen nahm man eine Straße, die direkt in die noch immer irakisch kontrollierte Stadt führte.

Die Division wurde umgeleitet - von Nasirija weg, aber die 507. Kompanie erfuhr nichts davon, denn sie hatten zeitweise keinen Funkkontakt und waren 12 Stunden hinter dem Hauptzug zurück. Die Verzögerung entstand durch die Panne zweier Tieflader und durch die beispiellose Geschwindigkeit, mit der die Spitzen der Division vorstießen. Zudem hatten die Mitglieder der Versorgungseinheit nach 70-stündigem Vorrücken kaum Möglichkeiten sich auszuruhen. Als Konsequenz geriet die Kompanie aus 18 Fahrzeugen und 33 Soldaten in feindliches Territorium, weit entfernt von der Hauptgruppe.


Nach Nasirija

Es war gegen 6.30 Uhr, als der Konvoi die Stadt erreichte. Man sah Irakische Soldaten an Passierstellen und bewaffnete Männer, die den vorbeifahrenden Amerikanern zuwinkten. Als der Kommandeur den Navigationsfehler bemerkte, entschied er, umzukehren und den Weg zurückzuverfolgen. Dann ging einem Fahrzeug das Benzin aus. Jessica Lynch fuhr zu diesem Zeitpunkt bei einem 5-Tonnen-Lkw mit.

Gegen 7 Uhr erschienen mehr Iraker auf der Straße. Der Kommandant befahl seinen Leuten, die Waffen zu sichern und zu laden. Jeder Soldat hatte 210 Ladungen Munition. Der ranghöchste Unteroffizier, Sergeant Robert J. Dowdy, 38, übernahm die Position am Ende des Konvois, während der Kommandant an der Spitze blieb. "Wir müssen die Geschwindigkeit erhöhen, fahrt schneller!", schrie Dowdy über Funk.


Unter Beschuss

Dann eröffneten die Iraker, einige in Zivilkleidung, das Feuer mit Kalaschnikows, Maschinengewehren, Raketen-getriebenen Granaten, Handgranaten und Mörser-Geschossen von beiden Seiten der Straße aus. Mindestens ein irakischer T-55 Panzer tauchte auf. Es wurden Sandsäcke, Trümmer und Autos in den Weg gestellt, um den Konvoi zu blockieren. Die US-Truppen schossen zurück. Das Feuergefecht wurde als "sehr verbissen, sehr ernst" beschrieben, es dauerte etwa 90 Minuten.

Zu allem Übel versagte im Kampf das einzige 50-Kaliber-Geschütz und andere Waffen hemmten, auch das Gewehr von Jessica Lynch. "Wir wissen nicht wie viel Munition sie verschoss", sagten Offiziere später, "oder ob sie überhaupt einen Schuss abgegeben hat." Als sie zu fliehen versuchten, blieben einige Fahrzeuge liegen oder fuhren sich im Sand fest. Dadurch brach der Verband auseinander.


In Sergeant Dowdys Jeep

Lynchs Lkw war auch fahruntüchtg geworden. Sie kam in Dowdys Jeep mit weichem Verdeck, der von ihrer Freundin Lori Ann Piestewa gefahren wurde. Im Wagen waren noch zwei weitere Soldaten, deren Bergungsfahrzeug stecken geblieben war. Dowdy nahm unter großer eigener Gefahr die beiden in seinem Jeep auf, hieß es im Verteidigungsministerium. Sie saßen auf dem Rücksitz, Lynch zwischen den beiden über der Antriebswelle.

Der Jeep eilte mit etwa 80km/h über die Straße, Sergeant Dowdy motivierte seine Leute zum Kämpfen und organisierte den Rückzug. Die Soldaten im Fahrzeug "hatten ihre Waffen im Anschlag und die Sicherheitsgurte geöffnet", sagte ein mit der Untersuchung vertrauter Beamter. "Wir nehmen an, dass sie das Feuer erwiderten."


Ein katastrophaler Unfall

Plötzlich wich ein US Sattelschlepper einem irakischen Kipplastwagen aus und stellte sich quer. Als Dowdys Fahrzeug den Tieflader erreichte, wurde der Jeep an der Fahrerseite von einer Raketen-getriebenen Granate getroffen. Die Fahrerin, Piestewa, verlor die Kontrolle, der Jeep geriet ins Schleudern und prallte frontal auf den Sattelschlepper.

Im Untersuchungsbericht wird die Kollision als "katastrophal" bezeichnet. Dowdy, der auf dem Beifahrersitz saß, war sofort tot. Eine Quelle sagt, es sei nicht klar, ob die beiden Soldaten an der Seite von Lynch durch feindliches Feuer oder durch den Unfall starben. Piestewa und Lynch wurden schwer verletzt und waren bewusstlos. Von den 33 angegriffenen Soldaten schafften es nur 16 in acht Fahrzeugen zu entkommen.


Im Militärhospital von Nasirija

Etwa zwei bis drei Kilometer vom Schauplatz entfernt lag das irakische Militärhospital von Nasirija. Dort wurde Jessica Lynch nach ihrer Gefangennahme zuerst behandelt. An diesem Morgen glich das Krankenhaus einem Bienenkorb: Fliehende, kämpfende und verwundete irakische Soldaten gingen ein und aus.

Jessica Lynch im Rollstuhl, sie wird von ihrem Bruder Greg geschoben.
 
Adnan Mushafafawi, ein Befehlshaber im Sanitätscorps der irakischen Armee und Direktor des Hospitals, sagte, ein Polizist habe zwei amerikanische Soldatinnen gegen 10 Uhr ins Krankenhaus gebracht. "Sie waren beide bewusstlos", sagte er. Die Schwerverletzten zeigten Symptome von Schock und Trauma. Er las ihre Erkennungsmarken: Es waren Jessica Lynch und Lori Ann Piestewa. Er weiß nicht, was mit ihnen zwischen ihrer Gefangennahme kurz nach 7 Uhr und der Einlieferung ins Krankenhaus etwa drei Stunden später geschehen ist.

"Miss Lori", sagte der Arzt, "hatte Blutergüsse am ganzen Gesicht. Sie blutete aus den Augen. Es muss eine schlimme Kopfverletzung gewesen sein. Die Soldatin starb bald nach der Ankunft im Hospital. Auf die Frage, ob eine der Frauen Schuss- oder Stichverletzungen hatte, sagte er: "Nein, nein." Später fügte er hinzu: "Möglicherweise eine Schusswunde bei Miss Lori."

Mushafafawi erzählte, er und sein medizinisches Team schnitten Lynchs Uniform auf. Sie lag fast nackt auf einer Liege, als die Militärärzte sie untersuchten. Sie fanden multiple Frakturen und eine Kopfverletzung, die Mushafafawi als harmlos beschrieb. Das Team nähte die Wunde. Ihr wurden Blut und Flüssigkeiten intravenös gegeben, sagte er. Dann wurden Röntgenaufnahmen gemacht, ihre Knochenbrüche teilweise gerichtet sowie Schienen und Gipsverbände angelegt. "Wenn wir sie nicht behandelt hätten, wäre sie gestorben."

Der Arzt sagte, dass die junge Frau kurzzeitig zu Bewusstsein kam, aber verwirrt schien. "Sie war sehr erschrocken", erinnerte er sich. "Wir beruhigten sie und sagten, dass sie in Sicherheit sei." Als Mushafafawi ihr vorschlug, die Beinfrakturen besser zu richten, sagte Lynch, sie möchte nicht, dass sie noch irgendetwas an ihr tun.

"Sie war zwei, drei Stunden bei uns", sagte der Arzt, dann wurde sie ins zivile Saddam Hussein Krankenhaus am anderen Ende von Nasirija verlegt. Er nahm an, dass sein Militärhospital von US-Streitkräften angegriffen werden würde. Daher war es sein Entschluss, Lynch zu verlegen und dass sie nicht von Offizieren der Armee oder des Geheimdienstes begleitet werden sollte. Piestewas Leichnam wurde ebenfalls zum Saddam Hussein Krankenhaus gebracht.


Im zivilen Krankenhaus von Nasirija

Als Lynch an diesem Nachmittag in einem Militärkrankenwagen dort an kam, waren die Schwestern und Ärzte, die sie aufnahmen, nach eigenen Angaben überrascht, eine amerikanische Frau vorzufinden, die fast nackt unter einem Laken lag und deren Gliedmaßen von Gipsverbänden umgeben waren.

Das Krankenhaus war in Betrieb, aber man stieß an seine Grenzen: Nur ein Dutzend Ärzte einer 60-köpfigen Belegschaft kam zur Arbeit, auch das Pflegepersonal war reduziert, da es auf den Straßen zu gefährlich war. Elektrizität war nur sporadisch vorhanden, die eigenen Generatoren hatten versagt, die medizinische Ausrüstung war dürftig. Dennoch wurden während Lynchs Aufenthalt täglich mehr als 200 Verletzte behandelt.

Später betonten die an der Behandlung Beteiligten, dass sie ihr die beste Versorgung gegeben hätten, die möglich war. Zudem konnten sie nicht glauben, dass es für irakische Agenten hier möglich gewesen sein soll, Jessica zu missbrauchen. Obwohl irakisches Militär, Geheimdienst und Mitglieder der Baath Partei das Krankenhaus zu ihrem Schutz und als Basis für Unternehmungen benutzten, sahen sie niemanden, der sie schlecht behandelte. 50 bis 100 Kämpfer wurden in und um das Krankenhaus gezählt. Die Anzahl ging dann von Tag zu Tag zurück. Deserteure flohen nachts, als die Amerikaner näher rückten. Aber mindestens ein Geheimdienstmann war stets vor ihrem Krankenzimmer postiert.


Ihr Zustand

Ärzte erinnerten sich, dass Jessicas Gesundheitszustand ernst war, als man sie in die Notaufnahme brachte. Neben ihren zahlreichen Frakturen waren ihre Extremitäten kalt, ihr Blutdruck sehr niedrig, ihre Herzfrequenz erhöht. Sie war bewusstlos und in einem Schockzustand.

Nach einigen Tagen Behandlung verbesserte sich ihr Zustand. Sie wurde von der Notaufnahme in die leere Herz-Kreislauf-Abteilung verlegt, wo sie ihr eigenes Zimmer hatte und von zwei Krankenschwestern betreut wurde.


Eine Atmosphäre der Angst

Die junge Frau hatte Schmerzen, ihr wurden starke Medikamente gegeben. Sie aß nur wenig, fragte nach Saft und Keksen. Das Personal sagte, man habe ihr Krankenhausessen angeboten, aber sie lehnte es ab. Sie wollte sehen, wie die Sachen vor ihr geöffnet wurden, erst dann aß sie sie.

Nach Aussage der Ärzte und Schwestern schwankte ihr mentaler Zustand von Stunde zu Stunde. "Sie scherzte mit uns manchmal, und manchmal weinte sie." Einer der beiden Allgemeinmediziner erzählte: "Sie wollte nicht, dass Fremde sie behandeln. Und einmal fragte sie mich, 'Warum stehen Sie vor mir? Wollen Sie mir wehtun?' Ich sagte 'nein, wir sind hier um Ihnen zu helfen'."

"Als sie einmal aufwachte, sagte sie, sie habe Angst und möchte, dass jemand bei ihr ist", erinnert sich eine Krankenschwester. "Sie sagte 'Ich habe Angst vor Saddam Hussein' und ich meinte nur 'Schhhh, erwähn diesen Namen nicht'." "Sie hörte lange nicht auf zu weinen," erzählte eine Schwester und bekam selbst Tränen in die Augen, als sie beschrieb, wie sie Jessica zu trösten versuchte, indem sie sie in den Schlaf sang oder Talk auf ihre Schulter strich.


Ungewöhnliche Verletzungen und Erinnerungslücken

Ein Chirurg des zivilen Krankenhauses von Nasirija sagte, dass ihm Lynchs Verletzungen misstrauisch machten. Beispielsweise waren die Frakturen an beiden Seiten des Körpers, und "wenn sie nur durch den Autounfall entstanden sein sollen, da waren keine Glassplitter in ihren Wunden, keine tiefen Wunden oder Quetschungen." In der US Militäruntersuchung heißt es, dass die meisten, wenn nicht alle Frakturen wohl durch den extremen Aufprall bei dem Unfall verursacht worden sind. Der irakische Chirurg meinte: "Vielleicht ein Autounfall oder vielleicht haben sie ihr die Knochen mit den Gewehrenden gebrochen oder sind auf ihre Beine gesprungen. Ich weiß es nicht. Sie wissen es, und Jessica weiß es. Ich kann nur vermuten."

Jessica winkt beim Empfang zu Hause
 
Ihre Familie sagt, sie erinnere sich nicht an ihre Gefangenschaft. Laut US Militärquellen ist sie nicht fähig über den Zeitraum zu reden zwischen dem Angriff auf ihre Einheit und als sie im zivilen Krankenhaus wieder zu vollem Bewusstsein kam. Aber dieses Verdrängen ist ein weit verbreitetes Verhalten bei Patienten mit traumatischen Erlebnissen.


Die Story des Irak-Feldzuges

In den Stunden nach dem Feuergefecht hörte der US Geheimdienst irakische Gespräche von Funkgeräten und Mobiltelefonen ab. Darin hieß es, dass "eine amerikanische Soldatin mit blonden Haaren sehr tapfer war und gegen sie gekämpft hatte." Eine andere Geheimdienstquelle zitiert Berichte von irakischen Zeugen, die sagten, sie habe ihre ganze Munition verschossen.

Über die nächsten Stunden und Tage hinweg wurden das Zentralkommando, das den Krieg von Doha, Katar, aus führte, und CIA Offiziere im Hauptquartier mit militärischen und geheimdienstlichen Berichten über den Hinterhalt überschüttet. Die irakischen Quellen hatten Informationen über eine Soldatin. Einmal hieß es: "Sie starb im Kampf." Dann: "Sie wurde von einem Schrapnell verwundet." Und an anderer Stelle: "Sie erhielt Schüsse an Arm und Bein und wurde erstochen."

Diese Berichte, verziert mit arabischem Mythos, waren die Ursachen für ein Heldentum, für einen Kampf bis zur letzten Patrone. Sie produzierten die Story dieses Krieges. Aber es war nur der Anfang. Es sollte noch übertroffen werden von Lynchs nächtlicher Rettung aus ihrem Krankenhausbett. Für das US Militär und die amerikanische Öffentlichkeit jedoch war die spektakuläre Rettung ein erfreulicher Moment in einer der schwärzesten Stunden dieses Krieges, als nämlich der Vormarsch der Truppen nach Bagdad ins Stocken geriet.

Danach bekam die Geschichte "ihr eigenes Leben", sagte ein Oberst, der die anschließende Informationssperre erwähnte. "Reporter schienen über die vagen Informationen der anderen Reporter zu berichten. Die Rettungsaktion wurde zum Hollywood-Drehbuch."


Heimkehr

Am Dienstag dem 22. Juli 2003, nach fast vier Monaten schmerzhafter Genesung kehrte Jessica Lynch nach West Virginia zurück. Sie war am Nachmittag vom Krankenhaus in Washington kommend in Elizabeth mit einem Black Hawk Hubschrauber gelandet. Es ist der gleiche Typ mit dem sie gerettet worden war. Tausende jubelnde Einheimische hießen Jessica willkommen. "Es ist schön wieder zu Hause zu sein. Ich möchte mich bei allen bedanken, die auf meine wohlbehaltene Heimkehr gehofft und darum gebetet haben", sagte die blonde Soldatin im Stadtpark von Elizabeth.

Jessica und ihr Bruder Greg in einem Cabrio bei der Fahrt nach Hause.
 
Gekleidet mit einem schwarzen Barett und einer glatt gebügelten grünen Uniform, dankte sie all denen, die ihr bei den Strapazen zur Seite standen: ihrer Familie, der Gemeinde, dem Gouverneur, dem Befreiungskommando und den Irakern, "die halfen mein Leben zu retten". Jessica saß bei ihrer Ansprache im Rollstuhl. Sie hat noch immer nicht genügend Gefühl in den Beinen, um alleine stehen zu können. Auch kann sie nur mit Hilfe eines Gehwagens laufen.

Ihre Uniform war geschmückt mit dem "Bronze Star", dem "Purple Heart" und der Kriegsgefangenen-Medaille, die sie am Vortag in einer Zeremonie am Walter Reed Militärhospital verliehen bekam. Der "Bronze Star" steht für Verdienste im Kampf, mit dem "Purple Heart" werden Kriegsverletzte geehrt. "Ich bin stolz Soldat zu sein", sagte die 20-jährige Frau vor einer großen Nationalflagge. "Ich bin stolz in der 507. Kompanie gedient zu haben. Ich bin froh, dass einige meiner Kameraden lebend nach Hause kamen. Und es schmerzt mich, dass einige es nicht geschafft haben."

Nach ihrer kurzen Rede in Elizabeth winkte die blasse junge Frau der Menge von einem offenen Ford Mustang aus zu. An der Seite ihres Bruders Greg, der ebenfalls Soldat ist, wurde sie in einem Autokorso nach Palestine, ihrem acht Kilometer entfernten Heimatort, gefahren.

Stadtarbeiter hatten zuvor hunderte von gelben Wimpeln entlang der Route zum 300-Seelen-Ort aufgehängt. Tausende Leute bereiteten ihr einen triumphalen Empfang. Sie säumten die Straßen, jubelten und schwenkten Fähnchen. Auf zahlreichen Schildern war zu lesen: "Willkommen zu Hause, Jessica !".